Amaya von Tom Fuhrmann ©2015
„Gütiger Himmel. Verschlafen. Jetzt aber schnell.“
Ein Blick aus dem Fenster beruhigte sie wieder etwas. Es
war draußen noch dunkel. Noch wurde die Finsternis nicht gespalten von Licht
des aufkommenden Morgens. Etwas Zeit blieb noch bis Angelos. Das war das erste
Gebet zu Ehren der himmlischen Engel, das wie üblich um 6 Uhr - eine Stunde vor
dem Laudes, dem Morgenlob - stattfand.
Am meisten freute sie sich allerdings auf
das anschließende Frühstück im Refektorium. Philomena war immer hungrig, wofür
sie sich früher eine Zeit lang geschämt hatte.
Sie zog ihr Nachthemd aus
und strich sich mit den Händen über ihre kleinen festen Brüste. Ihr fiel der
seltsame Traum wieder ein, den sie in der letzten Nacht hatte.
Darin war Philomena
aus unerfindlichen Gründen nachts aufgewacht, während ihre kleine Kammer in ein
seltsames pulsierendes Licht gehüllt gewesen war. Gleichzeitig hatte sie einen
Wind gespürt, wie eine sanfte warme Brise, der ihren Körper an Stellen streichelte, die
sie nur hinter vorgehaltener Hand vielleicht mit „Unten rum“ bezeichnet hätte.
Philomena nahm sich fest vor, diesen Traum zu beichten.
Niemals vorher hatte
sie ihre Sinnlichkeit derartig ungeniert ausgelebt. Schnell zog sie sich ihr
Habit an und kniete sich hin zum ersten Gebet.
Sie fragte sich, warum sie sich
so seltsam fühlte an diesem Morgen. Aber sie wusste: Gott lässt niemanden ohne
Antwort. Auch wenn es manchmal etwas dauert.
Beim Frühstück wurde ihr schlecht. Und zwar derartig, dass
sie sich in Schwester Rafaelas Schoss erbrach. Schuld daran war der
fürchterliche Gestank, der von Schwester Imelda ausging, den offenbar nur sie,
Philomena, wahrnahm und als störend empfand. Sehr viel später, bei der Vesper,
wurde ihr schon wieder übel, so dass sie lieber auf ihr Mahl verzichtete. Das
Abendlob überstand sie nur mit Mühe, denn eigentlich war sie hungriger als
jemals zuvor.
Was war los?
Wann würde Gott antworten?
Genaugenommen kam die Antwort kurz vor dem Schlafengehen.
Erschöpft
von ihrem schlichten Alltag, der aus Gartenarbeit, Referendariat und insgesamt
vier Stunden Gebet bestand, betrat die Nonne ihre Kammer.
„Hallo Philomena. Geht es dir wieder besser?“ Die Nonne
bekreuzigte sich und wollte sofort wieder die Kammer verlassen. Aber die Tür
war plötzlich verschwunden. Sie und der Mann auf ihrem Bett, den sie nicht
richtig erkennen konnte, weil er im Schatten saß, waren plötzlich von vier alten Klostermauern umgeben, die alle keine Tür hatten. Und was das Seltsamste war: Philomena
verspürte keine Angst.
„Verzeihung…“, ergänzte der Unbekannte, schnipste mit den
Fingern und schon war die Kammer erfüllt von warmen Licht.
„2700 Kelvin. So mögt ihr Menschen es doch am liebsten,
oder? Komm her, setz dich zu mir. Ich kann dir alles erklären.“, sagte der Mann
und stand auf. Er war fast drei Köpfe größer als Philomena, ein Riese von einem
Mann. Er trug auf seinem freien Oberkörper eine Art Rüstung, die aus
ausgeprägten Schulterpanzern und zahlreichen Riemen bestand. Seine enge Hose
war ebenfalls aus Leder und dazu trug er gepanzerte Stiefel wie ein
altgriechischer Soldat. Aber ein Mensch konnte er nicht sein.
„Sie haben…
Flügel?“, brachte sie stammelnd hervor, weil ihr wirklich nichts besseres
einfiel.
„Jep! Habe ich schon lange. Schick, oder?“
Die Nonne fiel in Ohnmacht. Der Engel verzog kurz den Mund,
dann hob er sie vom Boden auf, als ob sie aus Styropor wäre und setzte sie
neben sich auf das Bett. Er schnipste mit den Fingern und sofort kam Philomena
mit einem heftigen Schreck wieder zu sich. Sie bemerkte sofort, wer sie da im
Arm hielt und ihre Lippen bebten. Sie empfand immer noch keine Angst. Es war
vielmehr ein Gefühl, als ob sie vor Liebe platzen müsste.
„Also gut.“, begann der Engel. „Wir versuchen es noch
einmal. Ich bin der Verkündigungsengel Selaphiel. In gewisser Weise schickt
mich dein Boss. So sagt man doch? Ich bringe frohe Kunde.“
„Ein… Engel?“
„Verkündigungsengel. Soviel Zeit muss sein.
Und nun spitz mal deine niedlichen Lauscher. Das was ich zu sagen habe, wird
dir gefallen.“
Selaphiel grinste breit, während Philomena an seinen Lippen
klebte. Sein Lächeln steckte sie an. Sie grinste zurück.
„Du bist schwanger.“
Jetzt lächelte nur noch der Engel.
„Ich verstehe nicht. Wieso?“
„Der Heilige Geist ist in dich gefahren. Du wirst Gottes
Tochter gebären und sollst ihr den Namen Amaya geben. Auf dass sie die
Menschheit retten soll. Das ganze Programm, wie gehabt.“
Er zog seine Augenbrauen hoch.
„Das solltest du aber kennen,
Philomena?“
„Aber wieso?“, fragte die Nonne verzweifelt.
„Hast du dich mal umgesehen? Im Moment führen die Menschen
mehr grausame Kriege zur gleichen Zeit als jemals in den letzten zwanzig
Jahrhunderten zusammen. Ihr zerstört die Natur, euch selbst und irgendwann den
ganzen Planeten. Deshalb muss euch jemand stoppen. Ich bin eigentlich mehr
Lokis Meinung, dass man euch einfach…, aber lassen wir das! Mal im Ernst: Ukraine,
Genforschung, Walfang, Waffenexporte, Flüchtlingspolitik,
Verschwörungstheorien, Social Media, Umweltverschmutzung, Monsanto, Nestle,
ISIS, Indien, Ukraine und vor allem euer FERNSEHPROGRAMM? Brauchst du noch mehr Gründe, etwas zu
unternehmen? Also. Was ist?“
„Was ist?“
„Machst du mit, oder sollen wir euren Laden abfackeln. So nannte Bush das doch mit dem Irak?“
„Wieso ich?“
„Klar, eigentlich müsste das eine Amerikanerin machen. Die
haben das Meiste angerichtet. Aber sei mal ehrlich. Die wären doch selbst zu
blöd, den Heiland zu gebären. Und ihr Deutschen habt die Schöpfung dadurch
beeindruckt, dass ihr diesmal mit den Abkürzungs-Nazis fertig geworden seid. Offenbar seid ihr lernfähig. Also:
Machst du es?“
„Ich bekomme ein Baby?“
„Ich werte das mal als Ja.
Schön. Dann viel Erfolg mit Amaya. Gepriesen sei der Herr. Feierabend!“
Grelles Licht wie ein Blitz. Dann war alles wieder wie
vorher. Die Kammer war dunkel, Philomena war alleine. Und nachdem sie das Licht
angemacht hatte, sah sie, dass sich die Tür auch wieder da befand, wo sie
hingehörte.
Philomena hatte gerade ihren Bericht beendet. Äbtissin Bernarda
setzte ihre Brille ab, was ihr nichts von der natürlichen Strenge nahm, die sie
stets ausstrahlte. Für Ordensschwester Bernarda waren Nonnen, die ein Werk von
Paolo Coelho auf dem Nachtisch hatten, im Herzen schon Häretikerinnen und
verdächtig, den Versuchungen des Lebens zu erliegen.
„Schwester Philomena. Morgen in der Früh begrüßen wir einen
gern gesehenen Gast in unseren Mauern, den Domenikanerpater Werenfried. Kurz
vor der Vesper werde ich dich noch einmal zu mir bitten. Vielleicht bedarf es
ja ärztlichen Rates. Das werde ich mit Pater Werenfried, der sich großer
medizinischer Sachkunde erfreut, zu beraten haben. Nun gehe in deine Kammer und
widme dich bis dahin dem Gebet. Du bist heute von weltlichen Aufgaben befreit.“
Die Nonne verließ mit gesenktem Blick das Büro. Doch kaum
war die Tür ins Schloss gefallen, öffnete sich die Tür zum Besprechungsraum,
der sich nebenan befand. Hinaus trat Ordensschwester Regina, die Älteste unter
den Nonnen. Zu verbittert, um eine leitende Funktion übernehmen zu können, aber
zu missgünstig und unbarmherzig, um sich aus allem herauszuhalten.
„Man möchte sie verbrennen lassen, oder?“, spie sie hervor.
„Was machen wir mit ihr?“, ignorierte die Äbtissin die
kruden Worte.
„Wir schmeißen sie hinaus mit dem Wechselbalg. Wer war der
Missetäter?“
„Sie behauptet bei ihrem Seelenheil, das Kind stamme vom
Herrn selbst. Ein Engel sei ihr deswegen erschienen. Ich erkenne dabei keine Lüge
in ihrem Blick.“
„Dann bleibt uns nur eins.“
„Ja. Ich habe bereits Rom informiert. Morgen schon trifft
der Abgesandte der Glaubenskongregation hier ein.“
Ein schiefes Lächeln befiel Ordensschwester Regina. „Die
Inquisition…“, hauchte sie und bekreuzigte sich.
Draußen vor der Tür der Äbtissin wurde Philomena spontan
schlecht. Sie ertappte sich dabei, wie sie immer öfter ihren Bauch mit ihren
Händen abschirmte. Im Kopf hatte sie längst sämtliche Zweifel an ihrem Zustand
abgelegt. Es nach außen zu vertreten, überforderte sie jedoch völlig. Sie
spürte nicht nur, nein, sie wusste genau, dass Bernarda ihr nicht glaubte.
Philomena war im Klostergarten angekommen und übergab sich gründlich über dem
Eisenkraut. Auf dem Rückweg verpasste sie den Nelken auch noch ein paar
Spritzer ihres Mageninhaltes.
„Sie werden es mir wegnehmen…“, dachte sie. „Ich muss hier
verschwinden.“, sagte sie laut zu sich selbst.
Da sie ein schlichtes Leben im Kloster führte, brauchte sie
nicht lange, um ihre persönlichen Dinge in einer ebenso schlichten schwarzen
Stofftasche zu verstauen.
Eine knappe Stunde später war sie aus dem Kloster
verschwunden, und als sie eine weitere Stunde später nicht zur Vesper im
Refektorium erschien, führte man es allgemein auf ihre schlechte Befindlichkeit
zurück. Als am nächsten Tag fest stand, dass Philomena ausgebüxt war, schienen
nur Äbtissin Bernarda und Schwester Regina beruhigt. Pater Werenfried gab sich
sehr besorgt.
„Da läuft eine schwangere Nonne durch die Stadt. Das ist
genau die Art von Aufmerksamkeit, die wir nicht erheischen.“
„Wo mag sie nur stecken, unser verirrtes Lamm?“, gab
Bernarda sich bekümmert.
„Beizeiten im Bordell!“, brachte es Regina auf den Punkt.
Tatsächlich befand sich Philomena da, wo eine Nonne am
wenigsten auffällt. Sie saß in der Kirche.
Gerade war der Abendgottesdienst im Dom zu Limburg
abgehalten worden, und beim heiligen Abendmahl hatten Philomena und der
Dompfarrer, welcher ein alter Freund der Nonne war, mit ihren Blicken einander
signalisiert, dass eine Unterredung von Nöten war.
„Schwester?“, sprach der Dompfarrer mit sanfter Stimme. Der
Wiederhall im Dom verlieh dem Ganzen etwas Unnatürliches. Dompfarrer Augustinius winkte ihr vom Eingang
der Sakristei zu. Als Philomena neben den Altar zu ihm trat, reichte er ihr die
Hand und lächelte. Einen Augenblick später saßen sie sich bei einer Tasse
Kräutertee in der Sakristei gegenüber.
„Ich freue mich sehr über deinen Besuch, Kind. Aber was ist
dein Begehr? Wie kann ich helfen?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich werde ein Kind
bekommen. Es ist die Tochter des Herrn persönlich und sie wird Amaya heißen.
Sie soll die Menschen erretten, wie es einst der Herr Jesu getan hat. Der
Verkündigungsengel Selaphiel ist mir erschienen und hat es mir erzählt.“
Dem Dompfarrer stand der Mund offen.
„Aber ich habe Angst, dass mir keiner glaubt.“
Sie nahm einen Schluck Tee. Dann schwiegen beide. Für die
Nonne verging eine gefühlte Ewigkeit. Dann brach Augustinius die Stille:
„Schwanger? Wer weiß noch davon?“
„Nur sie, die Äbtissin und ich.“
„Aha.“
„Und der Engel. Und unser …, äh…, ja. Der Vater quasi.“
„Ja, natürlich. Ist klar. Es ist spät. Wo wirst du die Nacht
verbringen?“
Philomena brach zur Antwort in Tränen aus.
„Komm, Kind. In unserem Gästehaus findet sich ein Platz für
dich. Morgen früh reden wir noch einmal über alles.“
Er nahm sie zärtlich in die Arme. Wie ein Vater, der seine
erwachsene Tochter umarmt, gefühlvoll, aber distanziert. Dabei klopfte er ihr
sanft in langsamen Abständen auf den Rücken. In dieser Nacht fühlte sie sich
geborgen, als sie erschöpft einschlief.
Als sie aufwachte, war der Eingriff schon vorbei. Ihr Hals
war trocken wie Sand und tat weh. Ihr Kopf schmerzte jedoch noch mehr. Die
typischen Anzeichen, nachdem man mit Chloroform betäubt wurde.
„Glaube mir, es musste sein.“, sagte Augustinius. Aber
nicht zu ihr. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie er einem schmierig
wirkenden Mann ein paar Geldscheine in die Hand drückte. Dann wurde sie wieder
bewusstlos.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war sie bereits wieder
im Kloster. Dort hatte man sie auf einem Krankenbett mit Gurten fixiert.
Philomena spürte, dass sie hohes Fieber hatte.
„Hilfe, hört mich denn keiner!“, flüsterte sie schwach, gab
jedoch bald auf. Zuerst betete sie zu Gott, dass er wenigstens seiner Tochter
helfen möge. Ihrem Kind. Doch dann bemerkte sie den feuchten Fleck zwischen
ihren Beinen, der langsam größer wurde. Erneut versuchte sie, zu rufen.
Vergeblich. Mit dem Blut sickerte auch die letzte Kraft aus ihr heraus, bis sie
erneut bewusstlos wurde.
Selaphiel wandte seinen Blick ab und sagte: „Es sind immer
die Relativierer, die das Menschliche in Frage stellen.“
„
Aber in Wirklichkeit führen sie das Göttliche ad absurdum.“,
ergänzte Loki.
„Was ist schon das Leben eines einzelnen Kindes verglichen
mit tausend Leben von tausend anderen Kindern, die am gleichen Tag abgetrieben
wurden aus tausend anderen Gründen in tausend anderen Situationen, fragen sie.“,
sagte Selaphiel sichtlich erzürnt.
„Es ist alles. Oder nichts.“, sagte Loki.
Dann verschwanden
die beiden Engel.
„Wie geht es ihr?“, fragte Augustinius nebenan im Büro der
Äbtissin, und dabei schien er aufrichtig besorgt.
„Man hätte dich Judas nennen sollen.“, dachte Werenfried,
aber er sagte: „Die Operation verlief nicht gut. Ich habe ihr Schicksal nur
noch in Gottes Hände legen können. Ihr habt dennoch richtig gehandelt,
Augustinius. Wir hätten ihr das Kind wegnehmen müssen. Der Skandal hätte der
Kirche geschadet, so kurz nach der Sache mit eurem Vorgänger.“
Einen Moment schwiegen alle, dann sagte der Dompfarrer: „Aber
eines ist seltsam.“
Bernarda und der Gesandte Roms blickten auf. Augustinius
sah die Äbtissin direkt an und fuhr fort: „Medizinisch betrachtet, war sie noch
Jungfrau, hatte der Holländer gesagt, den ich engagiert hatte.“
Epilog
„Da bist du ja wieder.“, sagte Selaphiel. „Kann sein, dass
es noch ein bis zwei Jahrhunderte dauert, bis wir die Menschen vernichten. Aber
dann darfst du dir die Chose als eine der wenigen von hier oben aus ansehen.
Zusammen mit Amaya.“
Der Engel stupste das Baby in Philomenas Arm zart auf die
Nase.
"Vielleicht passiert auch wieder gar nichts. Sie ist manchmal so sprunghaft..."