Donnerstag, 31. März 2016

Solis Defectus

Man sagt ja, es wäre grundverkehrt, von der Browser-History eines Schriftstellers Rückschlüsse auf seinen Geisteszustand zu schließen.
Sicherlich ist das, was unsereins so googelt, manchmal grenzwertig.

deshalb ist es nicht verwunderlich, was dabei herauskommt, wenn ein Heimatverein mich bittet, eine Kurzgeschichte für eine Anthologie zu verfassen, die verschiedene kulturelle Förderobjekte zum Thema hat.

Meins war ein Elektroboot.

Die Anthologie "Grafschafter Geschichten" ist sehr schön geworden.

Viele geile Geschichten von netten Kollegen.   Ich habe bei dem Schreibprojekt viel gelernt, übers Schreiben und über meine Grafschaft. 
Mit vielen Kollegen habe ich seitdem regen Kontakt. 
Auch wenn mein kleiner Beitrag etwas... hervor sticht

Seht selbst.




Solis Defectus

Begleitet von einem stattlichen Lärmpegel entfernte sich die „Vechtesonne“ vom Anlegesteg am VVV-Turm. Während sie selbst geräuschlos durch das Wasser glitt, schwoll das Gejohle der 27 zumeist angetrunkenen Passagiere in Volkers Wahrnehmung mit jedem Meter Fahrt zu einer Kakofonie des Irrsinns an.
„Atemlos…durch die Nacht!“, brüllte ein älterer Herr zum gefühlten vierzigsten Mal. Volker hätte ihn am liebsten mit dem Feuerlöscher zum Schweigen gebracht.
„Ah…ha, aha…“, stimmte der Chor der Blöden ein. Die spärliche bunte Beleuchtung am Boot war die einzige Lichtquelle, während sie eher grölend als atemlos durch die Nacht trieben.

Seit der Jungfernfahrt am 26. April 2001 war Volker Möbius Steuermann auf der „Vechtesonne“. Damals war er gerade einundzwanzig Jahre alt gewesen, arbeitslos seit dem Schulabgang, und hatte sich mit viel Engagement und großen Hoffnungen an dem Projekt um den Elektro-Katamaran beteiligt. Und nun, dreizehn Jahre später, hatte er wie aus dem Nichts die Kündigung erhalten. Heute Nacht steuerte er zum letzten Mal „sein“ Boot.
Plötzlich stand einer der Gäste auf und schmiss seine Bierdose in die Vechte. Da es sich um die sogenannte Mondscheinfahrt handelte, welche stets um 22.00 Uhr begann, lag Nordhorn, die Wasserstadt, praktisch im Dunkeln. Tagsüber hätte der Mann kaum die Frechheit besessen, sich auf diese Art seines Abfalls zu entledigen. Grob packte Volker den Übeltäter am Kragen: „Noch einmal so eine Aktion und du gehst baden, mein Freund. Gelbe Karte, verstehen wir uns?“
Volker war fast zwei Meter groß und seine Erscheinung vermochte die meisten davon zu überzeugen, sich besser nicht mit ihm anzulegen. Ein Sänger weniger.

Er hasste diese nächtlichen Bootstouren. Er verabscheute auch den Alkohol, der aus normalen, netten Menschen Monster machen konnte, die sich nicht mehr benahmen und bei diesen Touren den umliegenden Anwohnern bei zotigen Sprüchen schamlos in die Häuser schauten.
Die Vechtesonne bog ab in den gleichnamigen See. Wie in einem schwarzen Spiegel folgte dem Boot auf der Wasseroberfläche seine verzerrte Kopie.
Ein Lächeln zeichnete sich nun auf Volkers Gesicht ab, denn er musste an Silke denken. Sie war seine erste große Liebe gewesen, doch lange hatte die Beziehung nicht gehalten. „Das Ende ist immer das Schmerzhafteste an der Liebe“, dachte Volker. Erst kürzlich hatte er sich von Tanja trennen müssen. Ein bisschen vermisste er sie sogar. Sie besaß die hübschesten Ohren. Aber auch hier war er es gewesen, der Schluß gemacht hatte. Seine Mutter hätte es ihm vorher prophezeit.
Mechanisch steuerte er das Boot in den Vechtearm an der Kornmühle - parallel zum Püntendamm. Die Passagiere hatten den kleinen Zwischenfall mit dem Dosenwerfer absorbiert wie ein Schwamm einen einzelnen Tropfen Wasser. Die Stimmung war wieder gut. Volker war es eh egal. Die letzte Fahrt. Die letzte Schuld, die er zu erfüllen hatte.
Sie näherten sich einer Brücke, die in der Dunkelheit schwer zu erkennen war. Volker erhob seine Stimme. „Vorsicht. Sitzen bleiben. Hier wird es wieder eng. Nicht den Kopf stoßen“, warnte er. Plötzlich hörte er wieder das Geräusch, als der Hammer Silkes Schädel durchbrach. Hier unter dieser Brücke hatte er sie im Wasser versteckt. Es war gar nicht so leicht gewesen, sie später wieder heraus zu bekommen, um sie endgültig verschwinden zu lassen. Aber es war ja auch sein „erstes Mal“. Danach verging fast ein Jahr, bevor er sich wieder verliebte.

Hastig nahm ein junger Mann den Platz neben ihm ein. Als er saß, gab er den Blick auf seine hübsche Begleiterin frei. Helle Haut, dunkle Haare. Ihre wilden Locken reichten bis zum Kinn. Er versuchte, ihren Geruch aufzufangen. Ihr Profil erinnerte ihn an die bösen Feen aus den Geschichten seiner Mutter. Mächtige, gefährliche Wesen. Aber auch sie konnten bluten.
Der Mühlendamm. Es war nun richtig finster. Links befand sich der Stadtpark, rechts hatten die Anwohner gewohnheitsgemäß ihre Häuser verdunkelt. Schlagartig verstummten die Gespräche der Passagiere. Die Straßenlaternen am angrenzenden Radweg waren der einzige Hinweis auf die Stadt in der Dunkelheit. Volker dachte an sein kleines Boot, das er hier in der Nähe versteckt hielt. Gerne würde er es der dunklen Fee links neben ihm einmal zeigen. Sie war perfekt für das, was heute noch getan werden musste.

Die dritte Frau hatte er nach weiteren drei Monaten angesprochen. Er hatte sie einmal zum Essen ausgeführt und dann zu Hause zerstückelt. Mit seinem kleinen Boot hatte er die künstlich beschwerten Kunststoffbeutel auf dem Vechtesee seinem Verhängnis geopfert. Damit man ihn verschonte.
Hinter ihm unterhielten sich zwei ältere Frauen. Aus ihren leicht belegten Stimmen schloss er, dass sie betrunken waren. „Da hinten war es, wo sie die Frau aus dem Wasser gezogen haben, ne?“ Seine Tanja. Karabossa wollte sie nicht. Spie sie wieder aus. Und er musste immer noch seine Schuld begleichen. Die letzte Chance. „Oh ja. Ich habe es gehört. Man hat ihr die Ohren abgeschnitten. Aber ich habe es nur gehört.“ „Nee, es stimmt. Im Fernsehen habe sie die Ohrringe gezeigt. Richtig dicke Klunker.“
Eine Beziehung endet manchmal in einer Sackgasse. Aber man behält gerne etwas als Erinnerung. Automatisch fuhr seine Hand in die linke Hosentasche, fühlte das nicht mehr ganz so frische Souvenir. Sie lebte noch, als sie ihm ihr Geschenk gab. Plötzlich traf ihn etwas am Kopf. Bier lief ihm über das Gesicht, vor Schreck zog er seine Hand aus der Tasche. Dabei fiel etwas heraus, direkt vor die Füße der beiden Frauen. Sie befanden sich auf Höhe der Ochsenstraße, wo zahlreiche Häuser zur Flussseite hin hell beleuchtet waren. Der große Aquamarin reflektierte verräterisch das Licht.
Reflexartig bückte sich eine der Frauen und hob das verschrumpelte Ohr mit dem großen Edelstein auf. Dann schrie sie panisch los. Der nachtragende Passagier, der seine Dosen normalerweise im Wasser versenkte, sprang über die etwa einen Quadratmeter großen Solarzellen auf dem Bug des Bootes herüber bis zum Ruder. „So du Hund. Hast du die Frau belästigt?“ Volker stand blitzschnell auf, und eine Sekunde später sprudelte dem wildgewordenen Passagier ein dunkler Strahl Blut aus dem Hals. Nun brach Panik aus.
Volker schubste den sterbenden Mann ins Wasser, wobei der Körper einen breiten roten Streifen auf den hellen Bootsrumpf zeichnete. Seine tödliche Klinge behielt Volker in der rechten Hand. Seine Gedanken überschlugen sich, aber es gab kein zurück. Das war das Zeichen.
„Alle runter von meinem Boot!“, brüllte er, während schon die ersten Leute in die Vechte sprangen.
Auch das dunkelhaarige Mädchen, das ihm so gefiel, stand auf. Doch er packte sie mit der freien Hand, zog sie an sich und hielt ihr das Messer an den Hals. „Du nicht. Du bleibst hier“, zischte er, wobei er ihrem Begleiter direkt ins Gesicht starrte. Dieser schien zu verstehen und sprang wortlos ins Wasser. Immer mehr Menschen folgten diesem Beispiel. Sie stürzten sich von Bord, die meisten verließen die Vechte in Richtung Schweinemarkt. Innerhalb kürzester Zeit waren Volker und die junge Frau alleine auf der Vechtesonne.
Sanft drückte er seine Geisel auf einen Sitz. Als ob nichts geschehen wäre, hob er das abgetrennte Ohr seines letzten Opfers vom Boden auf und steckte es in die Hosentasche zurück. Dann lächelte er: „Schöner Stein. Den anderen habe ich im Fluss verloren. Hat sich der Nöck geholt.“ Er sah ihren ratlosen Gesichtsausdruck und setzte zu einem Sing-Sang an: „Nöck, Nöck, Nadeldieb. Du bist im Wasser, ich bin an Land. Nöck, Nöck, Nadeldieb. Ich bin im Wasser, du bist an Land.“
Die Frau zitterte vor Angst. Sie schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. „Brauchst keine Angst haben. Der Nöck hat sein Opfer schon bekommen.“ Er lächelte irre und zeigte auf die Blutschlieren auf dem Bootsrumpf. „Nimm dich lieber vor den bösen Feen in Acht. Das ist die Zeit von …“ Er machte eine Pause und flüsterte dann: „…Karabossa.“
Volker hielt immer noch die blutverschmierte Klinge in seiner Hand. Ein finnisches Filiermesser von Marttiini, 19 Zentimeter lang. Höllisch scharf. Er trug sie stets in einer Lederhülle bei sich. Die Vechtesonne war gerade mit Höchstgeschwindigkeit unter der Brücke an der alten Synagogenstraße durchgefahren, da nahm die junge Frau all ihren Mut zusammen: „Hören Sie, sehen sie das Blaulicht und das alles? Die ganzen Leute? Sie haben doch keine Chance. Selbst, selbst … wenn Sie mir etwas tun. Das bringt doch nichts. Lassen sie mich gehen. Bitte! Ich …“
„Nein!“, brüllte Volker. Er ließ das Ruder los, stoppte den Motor, drehte sich um und kam bedrohlich auf sie zu. Das Messer hielt er weiter in der Hand. „Nein“, wiederholte er. „Ich kann nicht. Wenn ich dich gehen lasse, kommt sie und holt mich an deiner Stelle. Du gehörst jetzt ihr.“

„Aber nein. Niemand gehört jemandem. Auch ich nicht. Ich bin Christiane Weber. Und ich gehöre nur mir.“ „Sei still. Sie wird sonst nur ärgerlich!“ Christiane fing wieder an zu weinen. Während ihr Tränen der Verzweiflung über das Gesicht kullerten, brachte sie nur noch ein heiseres „Wer ist sie?“ hervor. Volker kam ganz nah an ihr Gesicht und zischte: „Karabossa …“
Die Frau bemerkte, dass auch Volker Tränen in den Augen standen. Er schluchzte fast: „Sie will immer das, was mich glücklich macht. Sonst holt sie mich.“ Plötzlich äffte er eine alte Frau nach und raunte: „Nein, nein, Volker. Das sind unanständige Gedanken. Das lassen wir nicht zu!“

Inzwischen hatten sich Schaulustige auf der Brücke am VVV - Turm eingefunden. Dort, wo die Fahrt der Vechtesonne begonnen hatte. Blaulichter näherten sich stetig, vereinten sich mit zahlreichen Katastrophentouristen, die dem Boot schon länger vom Ufer aus auf Fahrrädern und zu Fuß folgten. Jahrmarktstimmung.
Schlagartig straffte sich Volkers Körper wieder. „Heute ist meine letzte Tour. Und du bist ihr letztes Opfer. Dann bin ich frei!“ Christiane fing an zu schreien. Er ignorierte sie und startete den Motor. Als sie sich der letzten Brücke näherten, glaubte Volker, seinen Augen nicht zu trauen. „Verdammt, was soll das…“, brachte er noch hervor, da war es schon geschehen. Jemand ließ sich von der Brücke aufs Boot fallen. Bei dem waghalsigen Manöver hätte die mutige Polizistin fast den Halt auf dem blutverschmierten Bug verloren. Als sie ihre Dienstwaffe ziehen wollte, stürzte sich Volker auf sie. Immerhin gelang es der Beamtin, ihn zu entwaffnen. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Aber Volker war viel kräftiger als die zierliche Frau, und seine Schläge trafen unbarmherzig. Der ungleiche Kampf dauerte nicht lange, da stürzte die Polizistin und fiel von Bord.

Die Vechtesonne fuhr steuerlos mit Höchstgeschwindigkeit weiter, verließ knapp das enge Flussbett in Richtung des dunklen Vechtesees. Christiane, die vorher wie gelähmt schien, erkannte ihre Chance und versuchte ebenfalls, das Boot zu verlassen. „Nein!“, schrie Volker panisch. Er packte sie hinten am Kragen und warf sie brutal auf den Boden, wo sie liegenblieb.

Volker nahm das Ruder in die Hand. Etwa in der Mitte des Sees stoppte er die Fahrt. Nun würde es geschehen. Da spürte er einen Luftzug, drehte sich zu Seite und da stand sie, genau wie seine Mutter sie ihm immer beschrieben hatte. Dünne spinnenartige Beine hielten ihren unförmigen Körper. Unterhalb ihres mit zackigen Schuppen besetzten Buckels befand sich ihr hässlicher Kopf, der außer den langen schwarzen Haaren nichts Menschliches besaß. Sie streckte ihm ihre Krallen entgegen und rammte sie ihm in den Bauch. Volker spürte sein warmes Blut ausströmen, als er rief: „Karabossa! Dein Opfer! Ich…“ Doch als Antwort schlug sie ihm ihre Krallen in den Hals. Er roch sein Blut. Spürte eine ungeheure Kälte, als ihm schwarz vor Augen wurde. „Karabossa…“, ächzte er noch einmal, dann starb er.

„Ich gebe dir deine Karabossa…“, sagte Christiane und stach ihm sein eigenes Messer noch einmal in den Bauch.

Tom Fuhrmann ©2015


Inspirationsquelle: Solarkatamaran Vechtesonne


Keine Kommentare: