Man sagt ja, es wäre grundverkehrt, von der Browser-History eines Schriftstellers Rückschlüsse auf seinen Geisteszustand zu schließen.
Sicherlich ist das, was unsereins so googelt, manchmal grenzwertig.
deshalb ist es nicht verwunderlich, was dabei herauskommt, wenn ein Heimatverein mich bittet, eine Kurzgeschichte für eine Anthologie zu verfassen, die verschiedene kulturelle Förderobjekte zum Thema hat.
Meins war ein Elektroboot.
Die Anthologie "Grafschafter Geschichten" ist sehr schön geworden.
Viele geile Geschichten von netten Kollegen. Ich habe bei dem Schreibprojekt viel gelernt, übers Schreiben und über meine Grafschaft.
Mit vielen Kollegen habe ich seitdem regen Kontakt.
Auch wenn mein kleiner Beitrag etwas... hervor sticht.
Seht selbst.
Solis Defectus
Begleitet
von einem stattlichen Lärmpegel entfernte sich die „Vechtesonne“ vom Anlegesteg
am VVV-Turm. Während sie selbst geräuschlos durch das Wasser glitt, schwoll das
Gejohle der 27 zumeist angetrunkenen Passagiere in Volkers Wahrnehmung mit
jedem Meter Fahrt zu einer Kakofonie des Irrsinns an.
„Atemlos…durch
die Nacht!“, brüllte ein älterer Herr zum gefühlten vierzigsten Mal. Volker
hätte ihn am liebsten mit dem Feuerlöscher zum Schweigen gebracht.
„Ah…ha,
aha…“, stimmte der Chor der Blöden ein. Die spärliche bunte Beleuchtung am Boot
war die einzige Lichtquelle, während sie eher grölend als atemlos durch die
Nacht trieben.
Seit der
Jungfernfahrt am 26. April 2001 war Volker Möbius Steuermann auf der
„Vechtesonne“. Damals war er gerade einundzwanzig Jahre alt gewesen, arbeitslos
seit dem Schulabgang, und hatte sich mit viel Engagement und großen Hoffnungen
an dem Projekt um den Elektro-Katamaran beteiligt. Und nun, dreizehn Jahre
später, hatte er wie aus dem Nichts die Kündigung erhalten. Heute Nacht steuerte
er zum letzten Mal „sein“ Boot.
Plötzlich
stand einer der Gäste auf und schmiss seine Bierdose in die Vechte. Da es sich
um die sogenannte Mondscheinfahrt handelte, welche stets um 22.00 Uhr begann, lag
Nordhorn, die Wasserstadt, praktisch im Dunkeln. Tagsüber hätte der Mann kaum
die Frechheit besessen, sich auf diese Art seines Abfalls zu entledigen. Grob
packte Volker den Übeltäter am Kragen: „Noch einmal so eine Aktion und du gehst
baden, mein Freund. Gelbe Karte, verstehen wir uns?“
Volker
war fast zwei Meter groß und seine Erscheinung vermochte die meisten davon zu
überzeugen, sich besser nicht mit ihm anzulegen. Ein Sänger weniger.
Er hasste
diese nächtlichen Bootstouren. Er verabscheute auch den Alkohol, der aus
normalen, netten Menschen Monster machen konnte, die sich nicht mehr benahmen
und bei diesen Touren den umliegenden Anwohnern bei zotigen Sprüchen schamlos
in die Häuser schauten.
Die
Vechtesonne bog ab in den gleichnamigen See. Wie in einem schwarzen Spiegel
folgte dem Boot auf der Wasseroberfläche seine verzerrte Kopie.
Ein
Lächeln zeichnete sich nun auf Volkers Gesicht ab, denn er musste an Silke denken.
Sie war seine erste große Liebe gewesen, doch lange hatte die Beziehung nicht
gehalten. „Das Ende ist immer das Schmerzhafteste an der Liebe“, dachte Volker.
Erst kürzlich hatte er sich von Tanja trennen müssen. Ein bisschen vermisste er
sie sogar. Sie besaß die hübschesten Ohren. Aber auch hier war er es gewesen,
der Schluß gemacht hatte. Seine Mutter hätte es ihm vorher prophezeit.
Mechanisch
steuerte er das Boot in den Vechtearm an der Kornmühle - parallel zum Püntendamm.
Die Passagiere hatten den kleinen Zwischenfall mit dem Dosenwerfer absorbiert
wie ein Schwamm einen einzelnen Tropfen Wasser. Die Stimmung war wieder gut.
Volker war es eh egal. Die letzte Fahrt. Die letzte Schuld, die er zu erfüllen
hatte.
Sie
näherten sich einer Brücke, die in der Dunkelheit schwer zu erkennen war.
Volker erhob seine Stimme. „Vorsicht. Sitzen bleiben. Hier wird es wieder eng.
Nicht den Kopf stoßen“, warnte er. Plötzlich hörte er wieder das Geräusch, als
der Hammer Silkes Schädel durchbrach. Hier unter dieser Brücke hatte er sie im Wasser
versteckt. Es war gar nicht so leicht gewesen, sie später wieder heraus zu
bekommen, um sie endgültig verschwinden zu lassen. Aber es war ja auch sein
„erstes Mal“. Danach verging fast ein Jahr, bevor er sich wieder verliebte.
Hastig nahm
ein junger Mann den Platz neben ihm ein. Als er saß, gab er den Blick auf seine
hübsche Begleiterin frei. Helle Haut, dunkle Haare. Ihre wilden Locken reichten
bis zum Kinn. Er versuchte, ihren Geruch aufzufangen. Ihr Profil erinnerte ihn
an die bösen Feen aus den Geschichten seiner Mutter. Mächtige, gefährliche
Wesen. Aber auch sie konnten bluten.
Der
Mühlendamm. Es war nun richtig finster. Links befand sich der Stadtpark, rechts
hatten die Anwohner gewohnheitsgemäß ihre Häuser verdunkelt. Schlagartig verstummten
die Gespräche der Passagiere. Die Straßenlaternen am angrenzenden Radweg waren
der einzige Hinweis auf die Stadt in der Dunkelheit. Volker dachte an sein
kleines Boot, das er hier in der Nähe versteckt hielt. Gerne würde er es der
dunklen Fee links neben ihm einmal zeigen. Sie war perfekt für das, was heute
noch getan werden musste.
Die
dritte Frau hatte er nach weiteren drei Monaten angesprochen. Er hatte sie einmal
zum Essen ausgeführt und dann zu Hause zerstückelt. Mit seinem kleinen Boot hatte
er die künstlich beschwerten Kunststoffbeutel auf dem Vechtesee seinem
Verhängnis geopfert. Damit man ihn verschonte.
Hinter
ihm unterhielten sich zwei ältere Frauen. Aus ihren leicht belegten Stimmen
schloss er, dass sie betrunken waren. „Da hinten war es, wo sie die Frau aus
dem Wasser gezogen haben, ne?“ Seine Tanja. Karabossa wollte sie nicht. Spie
sie wieder aus. Und er musste immer noch seine Schuld begleichen. Die letzte
Chance. „Oh ja. Ich habe es gehört. Man hat ihr die Ohren abgeschnitten. Aber
ich habe es nur gehört.“ „Nee, es stimmt. Im Fernsehen habe sie die Ohrringe
gezeigt. Richtig dicke Klunker.“
Eine
Beziehung endet manchmal in einer Sackgasse. Aber man behält gerne etwas als
Erinnerung. Automatisch fuhr seine Hand in die linke Hosentasche, fühlte das
nicht mehr ganz so frische Souvenir. Sie lebte noch, als sie ihm ihr Geschenk
gab. Plötzlich traf ihn etwas am Kopf. Bier lief ihm über das Gesicht, vor Schreck
zog er seine Hand aus der Tasche. Dabei fiel etwas heraus, direkt vor die Füße
der beiden Frauen. Sie befanden sich auf Höhe der Ochsenstraße, wo zahlreiche
Häuser zur Flussseite hin hell beleuchtet waren. Der große Aquamarin
reflektierte verräterisch das Licht.
Reflexartig
bückte sich eine der Frauen und hob das verschrumpelte Ohr mit dem großen
Edelstein auf. Dann schrie sie panisch los. Der nachtragende Passagier, der seine
Dosen normalerweise im Wasser versenkte, sprang über die etwa einen Quadratmeter
großen Solarzellen auf dem Bug des Bootes herüber bis zum Ruder. „So du Hund.
Hast du die Frau belästigt?“ Volker stand blitzschnell auf, und eine Sekunde
später sprudelte dem wildgewordenen Passagier ein dunkler Strahl Blut aus dem
Hals. Nun brach Panik aus.
Volker
schubste den sterbenden Mann ins Wasser, wobei der Körper einen breiten roten
Streifen auf den hellen Bootsrumpf zeichnete. Seine tödliche Klinge behielt Volker
in der rechten Hand. Seine Gedanken überschlugen sich, aber es gab kein zurück.
Das war das Zeichen.
„Alle
runter von meinem Boot!“, brüllte er, während schon die ersten Leute in die
Vechte sprangen.
Auch das
dunkelhaarige Mädchen, das ihm so gefiel, stand auf. Doch er packte sie mit der
freien Hand, zog sie an sich und hielt ihr das Messer an den Hals. „Du nicht.
Du bleibst hier“, zischte er, wobei er ihrem Begleiter direkt ins Gesicht starrte.
Dieser schien zu verstehen und sprang wortlos ins Wasser. Immer mehr Menschen
folgten diesem Beispiel. Sie stürzten sich von Bord, die meisten verließen die
Vechte in Richtung Schweinemarkt. Innerhalb kürzester Zeit waren Volker und die
junge Frau alleine auf der Vechtesonne.
Sanft
drückte er seine Geisel auf einen Sitz. Als ob nichts geschehen wäre, hob er
das abgetrennte Ohr seines letzten Opfers vom Boden auf und steckte es in die
Hosentasche zurück. Dann lächelte er: „Schöner Stein. Den anderen habe ich im
Fluss verloren. Hat sich der Nöck geholt.“ Er sah ihren ratlosen Gesichtsausdruck
und setzte zu einem Sing-Sang an: „Nöck, Nöck, Nadeldieb. Du bist im Wasser,
ich bin an Land. Nöck, Nöck, Nadeldieb. Ich bin im Wasser, du bist an Land.“
Die Frau
zitterte vor Angst. Sie schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. „Brauchst
keine Angst haben. Der Nöck hat sein Opfer schon bekommen.“ Er lächelte irre
und zeigte auf die Blutschlieren auf dem Bootsrumpf. „Nimm dich lieber vor den
bösen Feen in Acht. Das ist die Zeit von …“ Er machte eine Pause und flüsterte
dann: „…Karabossa.“
Volker
hielt immer noch die blutverschmierte Klinge in seiner Hand. Ein finnisches
Filiermesser von Marttiini, 19 Zentimeter lang. Höllisch scharf. Er trug sie
stets in einer Lederhülle bei sich. Die Vechtesonne war gerade mit
Höchstgeschwindigkeit unter der Brücke an der alten Synagogenstraße durchgefahren,
da nahm die junge Frau all ihren Mut zusammen: „Hören Sie, sehen sie das
Blaulicht und das alles? Die ganzen Leute? Sie haben doch keine Chance. Selbst,
selbst … wenn Sie mir etwas tun. Das bringt doch nichts. Lassen sie mich gehen.
Bitte! Ich …“
„Nein!“,
brüllte Volker. Er ließ das Ruder los, stoppte den Motor, drehte sich um und
kam bedrohlich auf sie zu. Das Messer hielt er weiter in der Hand. „Nein“,
wiederholte er. „Ich kann nicht. Wenn ich dich gehen lasse, kommt sie und holt
mich an deiner Stelle. Du gehörst jetzt ihr.“
„Aber
nein. Niemand gehört jemandem. Auch ich nicht. Ich bin Christiane Weber. Und
ich gehöre nur mir.“ „Sei still. Sie wird sonst nur ärgerlich!“ Christiane fing
wieder an zu weinen. Während ihr Tränen der Verzweiflung über das Gesicht
kullerten, brachte sie nur noch ein heiseres „Wer ist sie?“ hervor. Volker kam ganz nah an ihr Gesicht und zischte:
„Karabossa …“
Die Frau
bemerkte, dass auch Volker Tränen in den Augen standen. Er schluchzte fast: „Sie
will immer das, was mich glücklich macht. Sonst holt sie mich.“ Plötzlich äffte
er eine alte Frau nach und raunte: „Nein, nein, Volker. Das sind unanständige
Gedanken. Das lassen wir nicht zu!“
Inzwischen
hatten sich Schaulustige auf der Brücke am VVV - Turm eingefunden. Dort, wo die
Fahrt der Vechtesonne begonnen hatte. Blaulichter näherten sich stetig,
vereinten sich mit zahlreichen Katastrophentouristen, die dem Boot schon länger
vom Ufer aus auf Fahrrädern und zu Fuß folgten. Jahrmarktstimmung.
Schlagartig
straffte sich Volkers Körper wieder. „Heute ist meine letzte Tour. Und du bist
ihr letztes Opfer. Dann bin ich frei!“ Christiane fing an zu schreien. Er
ignorierte sie und startete den Motor. Als sie sich der letzten Brücke näherten,
glaubte Volker, seinen Augen nicht zu trauen. „Verdammt, was soll das…“,
brachte er noch hervor, da war es schon geschehen. Jemand ließ sich von der
Brücke aufs Boot fallen. Bei dem waghalsigen Manöver hätte die mutige Polizistin
fast den Halt auf dem blutverschmierten Bug verloren. Als sie ihre Dienstwaffe
ziehen wollte, stürzte sich Volker auf sie. Immerhin gelang es der Beamtin, ihn
zu entwaffnen. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Aber Volker war viel kräftiger
als die zierliche Frau, und seine Schläge trafen unbarmherzig. Der ungleiche
Kampf dauerte nicht lange, da stürzte die Polizistin und fiel von Bord.
Die
Vechtesonne fuhr steuerlos mit Höchstgeschwindigkeit weiter, verließ knapp das
enge Flussbett in Richtung des dunklen Vechtesees. Christiane, die vorher wie
gelähmt schien, erkannte ihre Chance und versuchte ebenfalls, das Boot zu
verlassen. „Nein!“, schrie Volker panisch. Er packte sie hinten am Kragen und
warf sie brutal auf den Boden, wo sie liegenblieb.
Volker
nahm das Ruder in die Hand. Etwa in der Mitte des Sees stoppte er die Fahrt.
Nun würde es geschehen. Da spürte er einen Luftzug, drehte sich zu Seite und da
stand sie, genau wie seine Mutter sie ihm immer beschrieben hatte. Dünne
spinnenartige Beine hielten ihren unförmigen Körper. Unterhalb ihres mit
zackigen Schuppen besetzten Buckels befand sich ihr hässlicher Kopf, der außer
den langen schwarzen Haaren nichts Menschliches besaß. Sie streckte ihm ihre
Krallen entgegen und rammte sie ihm in den Bauch. Volker spürte sein warmes
Blut ausströmen, als er rief: „Karabossa! Dein Opfer! Ich…“ Doch als Antwort
schlug sie ihm ihre Krallen in den Hals. Er roch sein Blut. Spürte eine
ungeheure Kälte, als ihm schwarz vor Augen wurde. „Karabossa…“, ächzte er noch
einmal, dann starb er.
„Ich gebe
dir deine Karabossa…“, sagte Christiane und stach ihm sein eigenes Messer noch
einmal in den Bauch.
Tom
Fuhrmann ©2015
Inspirationsquelle:
Solarkatamaran Vechtesonne
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